Barnaby Mossford erzählt

Peter Llewelyn Davies: Das tragische Leben des echten Peter Pan

Ein Grabstein meißelt eine Identität in Stein, legt einen Namen und ein paar Daten fest und erklärt die Geschichte für beendet. Hier auf dem Friedhof von St. John’s in Hampstead, wo der Efeu an den alten Mauern emporrankt und die Stille nur vom fernen Murmeln der Stadt unterbrochen wird, stehe ich vor einem solchen Stein. Er erzählt eine Geschichte, aber wie bei so vielen, die hier ruhen, verschweigt er mehr, als er verrät. Der Name, der hier eingraviert ist, lautet Peter Llewelyn Davies. Ein solider, bürgerlicher Name, der von einem Leben als Verleger, als Ehemann und Vater, als ausgezeichneter Kriegsoffizier hätte zeugen können. Doch die Welt kannte diesen Mann unter einem anderen Namen, einem Namen, der ihm nicht gehörte und den er nie wollte.

Als Peter Llewelyn Davies starb, betrauerte die Welt nicht Peter Davies, sondern Peter Pan. Die Schlagzeilen, jene unbarmherzigen Epitaphe aus Druckerschwärze, verkündeten es unmissverständlich: „Peter Pan begeht Selbstmord“. Sie banden ihn im Tod an jenes flüchtige Phantom seiner Kindheit, an das, was er selbst verbittert „jenes schreckliche Meisterwerk“ nannte. Doch dieser Stein erzählt von einem echten Mann, dessen Leben lange vor und lange nach dem Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, von echten Tragödien gezeichnet war. Um diesen Mann zu verstehen, müssen wir an den Anfang seiner Geschichte zurückkehren.

Es war das späte viktorianische London, in diesem Fall eine Welt der scheinbar unerschütterlichen bürgerlichen Sicherheit, in der die Kindheit ein idyllisches Reich aus Kindermädchen, Reifen-Spielen und sorgfältigen Spaziergängen in den gepflegten Parks der Stadt war. In diesem scheinbar perfekten Rahmen wurde die Bühne für eine Begegnung bereitet, die das Leben einer Familie für immer verändern sollte. Es war die Familie von Arthur Llewelyn Davies, einem angesehenen Barrister, und seiner Frau Sylvia, der Tochter des berühmten Karikaturisten George du Maurier. Sie hatten fünf Söhne, eine laute, lebhafte Bruderschaft: George, Jack, Michael, Nicholas und den kleinen Peter, der Dritte in der Reihe.

Eines Tages, als sie durch die Kensington Gardens spazierten, traf die Familie auf einen kleinen, exzentrischen Mann mit einem riesigen Bernhardiner. Es war der Dramatiker J. M. Barrie. Peter war zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als ein Säugling im Kinderwagen, und Barries Aufmerksamkeit galt zunächst seinen älteren Brüdern George und Jack. Mit der Fähigkeit, mit den Augenbrauen zu wackeln, mit seinem Hund Kunststücke aufzuführen und vor allem mit seinen schier unerschöpflichen, fantasievollen Geschichten, eroberte Barrie die Herzen der Jungen im Sturm. Er wurde zu einem festen Bestandteil ihres Lebens, zu ihrem geliebten „Onkel Jim“. In der Unschuld dieser Tage in Kensington Gardens ahnte niemand, dass der Zauber, den dieser neue Freund versprühte, eines Tages einen langen, dunklen Schatten werfen würde.

Barrie sog die unschuldige Fantasie, die unbeschwerten Abenteuer und die brüderliche Dynamik der Jungen auf und verwandelte sie in das Rohmaterial für sein größtes Werk. Die Figur des Peter Pan ist ein Kompositum, eine Verschmelzung der fünf Brüder. Obwohl Peter Llewelyn Davies seinen Namen für die Titelfigur hergab, waren es seine Brüder, die den Charakter mit Leben füllten. Der unerschrockene Geist und die Anführerqualitäten basierten stark auf dem ältesten, George, während die sensible und fantasievolle Seele der Figur von Michael inspiriert war. Barrie selbst beschrieb diesen kreativen Prozess einmal treffend: “Ich habe Peter Pan erschaffen, indem ich euch fünf aneinander rieb, wie Wilde, die Stöcke aneinander reiben, um Feuer zu machen.”

Im Jahr 1904, just in dem Jahr, als das Theaterstück Peter Pan, or The Boy Who Wouldn’t Grow Up in London uraufgeführt wurde und einen beispiellosen Erfolg feierte, zog die Familie nach Egerton House in Hertfordshire. Dieser Umzug markierte den Höhepunkt einer idyllischen Zeit, einer fast magischen Phase, in der die Grenzen zwischen der Realität der Familie Davies und der Fiktion von Nimmerland zu verschwimmen schienen. Aber während die Welt dem Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, zujubelte, zogen sich am Horizont bereits die dunklen Wolken zusammen.

Das Leben eines jeden Menschen wird durch eine Reihe von Meilensteinen geformt, durch Ereignisse, die ihn sowohl definieren als auch brechen können. Für Peter Davies waren diese Meilensteine besonders grausam. Der erste Schatten fiel auf ihn, als er noch ein Schuljunge war, der versuchte, seinen Platz in der Welt zu finden. Barrie gab öffentlich bekannt, dass Peter die Inspiration für den Namen der unsterblichen Figur „Peter Pan“ gewesen sei.

Das Ergebnis war unerbittlicher Spott auf dem Schulhof, eine Qual, die den Grundstein für seine lebenslange Abneigung gegen „dieses schreckliche Meisterwerk“ legte. Doch das Hänseln in der Kindheit war nur ein Vorspiel für die wirkliche Tragödie, die bald darauf mit unerbittlicher Härte zuschlug. Im Jahr 1907 starb sein Vater Arthur. Nur drei Jahre später, 1910, folgte ihm seine Mutter Sylvia, die dem Lungenkrebs erlag. Die Konsequenz dieser Verluste war tiefgreifend und endgültig: J. M. Barrie, der Freund der Familie, wurde zum offiziellen Vormund der fünf verwaisten Jungen ernannt, und ihre Schicksale wurden untrennbar miteinander verwoben.

Die Umstände dieser Vormundschaft sind jedoch von einer tiefen Kontroverse überschattet. Auf ihrem Sterbebett soll Sylvia in ihrem Testament verfügt haben, dass “Jenny” – die Schwester des langjährigen Kindermädchens Mary Hodgson – sich um die Jungen kümmern solle. Barrie jedoch transkribierte diese Notiz und soll den Namen “Jenny” in “Jimmy” – seinen eigenen Spitznamen – geändert haben. Durch diesen Akt, ob bewusste Fälschung oder eigennützige Interpretation, sicherte er sich das Sorgerecht und übernahm die vollständige Kontrolle über das Leben der “verlorenen Jungen”.

Während der fiktive Junge in Nimmerland ewig spielte, musste der echte Peter in den Ersten Weltkrieg ziehen. Er meldete sich freiwillig und diente als Offizier an der Westfront, ein krasserer Gegensatz zum sorgenfreien Jungen ist kaum vorstellbar. Dort erlebte er nicht nur die Schrecken des Grabenkriegs, sondern auch den Verlust seines älteren Bruders George, der 1915 bei Ypern fiel. Ein weiterer Stein, den ich kenne, auf einem Feld weit von hier. Doch inmitten des Grauens bewies Peter Davies eine Tapferkeit, die in keiner Märchengeschichte steht. Er stieg in den Rang eines Hauptmanns auf und wurde für seine außergewöhnliche Führung während eines zermürbenden 15-tägigen Kampfrückzugs während der deutschen Frühjahrsoffensive 1918 mit dem Military Cross ausgezeichnet.

Er war ein Held, doch die Erlebnisse im Krieg hinterließen tiefe emotionale Narben. Die Geister der gefallenen Kameraden und seines Bruders sollten ihn ebenso verfolgen wie der unsterbliche Junge, dessen Namen er trug. Denn in der Öffentlichkeit erwartete man von ihm, der echte Peter Pan zu sein. Kindlich, fröhlich, frech – frei, mutig und glücklich. Wann immer er öffentlich erwähnt wurde, schwang Nimmerland mit.

Doch das Schicksal ließ ihm keine Ruhe. 1921 traf ihn ein weiterer verheerender Schlag, als sein Bruder Michael, der als der brillanteste und sensibelste der Jungen und als Barries unbestrittener Liebling galt, im Alter von nur 20 Jahren ertrank. Er starb zusammen mit einem engen Freund in Sandford Lasher bei Oxford, einem als notorisch gefährlich bekannten Gewässer. Ob es ein Unfall oder ein Suizidpakt war, wurde nie geklärt, doch der Verlust stürzte Peter in tiefe Trauer.

Die Summe dieser Schicksalsschläge, die ständige Konfrontation mit einem Ruhm, den er verabscheute, und die unheilbaren Wunden aus dem Krieg begannen, langsam aber unaufhaltsam seinen Lebenswillen zu untergraben.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg unternahm Peter Llewelyn Davies entschlossene Versuche, sich ein eigenes, von der Last seines Namens unabhängiges Leben aufzubauen. Er strebte nach Normalität und persönlicher Anerkennung, doch der Schatten von Peter Pan war allgegenwärtig und warf einen langen, dunklen Schleier über all seine Bemühungen. Mit finanzieller Unterstützung von Barrie gründete er den Verlag Peter Davies Ltd. Er heiratete 1931 Margaret Leslie Hore-Ruthven und wurde Vater von drei Söhnen. Es war sein Traum, einfach nur Peter Davies zu sein – ein Verleger, ein Ehemann, ein Vater.

Peter litt an chronischer Depression, eine Krankheit, die durch die Traumata des Krieges und die familiären Schicksalsschläge genährt wurde. Er kämpfte mit Alkoholismus, um seine inneren Dämonen zu betäuben, und litt an einem schweren Lungenemphysem, das ihm das Atmen erschwerte. Der wohl grausamste Schlag war die verheerende Erkenntnis, dass seine Frau Margaret und alle drei Söhne die unheilbare Erbkrankheit Chorea Huntington geerbt hatten. Die Gewissheit, dass das Leben seiner Liebsten von einem langsamen, qualvollen Verfall bestimmt sein würde, muss für ihn unerträglich gewesen sein.

Als Barrie 1937 starb, folgte eine weitere Enttäuschung, die Peters Verbitterung vertiefte. Barrie hinterließ den Großteil seines beträchtlichen Vermögens seiner Sekretärin und vermachte die lukrativen Urheberrechte an Peter Pan dem Great Ormond Street Hospital. Für Peter war dies ein tiefer persönlicher und finanzieller Verrat. Sein Sohn Ruthven erklärte es später so: „Mein Vater hatte gemischte Gefühle bezüglich der ganzen Sache mit Peter Pan. Er akzeptierte, dass Barrie ihn als Inspiration für Peter Pan betrachtete, und es war nur vernünftig, dass mein Vater alles von Barrie erben sollte. Das war die Erwartung meines Vaters. Es hätte ihn für die Notorietät entschädigt, die er erlebt hatte.“

Am 5. April 1960 begang der 63-jährige Peter Llewelyn Davies Selbstmord. So endete ein Leben, das im Schatten einer unsterblichen Figur geführt wurde. Die tragische Ironie des Lebens von Peter Davies liegt darin, dass er der Welt nicht als der Mann in Erinnerung geblieben ist, der er war – nicht als Kriegsheld, nicht als Verleger, nicht als Familienvater. Er ist als die Verkörperung dessen unsterblich geworden, wovor er sein ganzes Leben lang floh. Die Schlagzeilen, die seinen Tod verkündeten, nannten ihn nicht bei seinem Namen, sondern bei dem des Märchenjungen.

Der Mann, der hier unter diesem einfachen Stein auf dem Friedhof von St. John’s liegt, mit all seinen realen Errungenschaften, seinem Mut und seinen unermesslichen Leiden, wurde auf ewig mit dem sorgenfreien Jungen aus Nimmerland verschmolzen, dessen Name zu seinem Fluch wurde. Am Ende erzählt ein einfacher Name auf einem kalten Stein eine weitaus ehrlichere und tiefere Geschichte als das berühmteste Märchen der Welt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der gezwungen war, viel zu schnell erwachsen zu werden, und der doch nie ganz aus dem Schatten eines Jungen heraustreten durfte, der es nie musste.

‼️Wenn Sie den Verdacht haben, an Depression zu leiden, wenden Sie sich bitte schnell an einen Arzt, eine Ärztin oder an eine Psychotherapeutin bzw. einen Psychotherapeuten. In Notfällen wenden Sie sich bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder einen Krisendienst. Adressen finden Sie zum Beispiel unter www.deutsche-depressionshilfe.de – oder direkt an den Notarzt unter der Telefonnummer 112. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter https://www.telefonseelsorge.de

Lady Mildred Puddlewick
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